Rezension Stephan Lohse – Johanns Bruder

Rezension Stephan Lohse – Johanns Bruder

Autor: Stephan Lohse
Titel: Johanns Bruder
Herausgeber: Suhrkamp Verlag 
Datum der Erstveröffentlichung: 14. September 2020
Buchlänge: 343 Seiten
ISBN: 978-3-518-42959-4
Preis: HC 22,00€ / eBook 18,99€
Erwerben

 

♥ Dieser Beitrag enthält Werbung, da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt 

 

 

Paul wird in einem Dorf nördlich von Celle von der Polizei aufgegriffen. Er hat siebzehn Hühnern den Kopf abgeschlagen. Weil er zu dem Vorfall beharrlich schweigt, wird er in eine psychiatrische Klinik gebracht. Von dort soll ihn sein jüngerer Bruder Johann abholen – die beiden haben sich seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Als Paul seinen Bruder schließlich bittet, ihn auf eine Reise zu begleiten, willigt Johann ein. Ihre erste Station ist jenes Dorf bei Celle: Altensalzkoth. Dort versteckte sich zwischen 1946 und 1950 Adolf Eichmann, dessen Weg Paul minutiös verfolgt und aufgezeichnet hat. Johann erkennt bald, was es mit den Hühnern auf sich hat und warum Paul und er in Richtung niederländische Nordseeküste weiterreisen, immer entlang des 52. Breitengrades.

Quelle: Suhrkamp Verlag

 

 

 

Manchmal wundere ich mich, welche Geschichten in einem Buch miteinander verknüpft werden können. Wenn mir beispielsweise jemand nur mündlich den Inhalt von Johanns Bruder wiedergeben würde, dann müsste ich den Kopf schütteln und ihn für einen Spinner halten, weil ich denke: Sowas funktioniert doch nie.
Doch dann liest man ein solches Buch, das in diesem Fall von einer intimen Brudergeschichte handelt und zeitgleich auch Platz für einen Naziverbrecher schafft und wundert sich doch nicht.
Alles ergibt Sinn, obwohl es sich offensichtlich um ein wirres Buchkonzept handelt – tja, Sachen gibt’s.

 

Seit mehr als 20 Jahren haben sie sich die beiden Brüder nicht gesehen: Johann, der als Opfer gegangen und Paul, der als Zeuge zurückgeblieben ist. Doch dann erhält Johann plötzlich einen Anruf. Er soll Paul aus einer psychiatrischen Klink in Celle abholen, weil er in einem nahegelegenen Dorf 17 Hühnern den Kopf abgeschlagen hat. Warum? Das ist die erste Frage, die ihm die Polizei stellt, doch Paul antwortet nicht, kommuniziert ausschließlich mit Gesten, einem Wunderblock und Tüten voller beschriebener Zettel. Und diese versteht nur Johann, selbst nach 20 Jahren.

Als der vom Nationalsozialismus besessene Paul schließlich in die Obhut seines Bruder entlassen wird, überredet er diesen zu einer Reise: Auf den Spuren von Adolf Eichmann, der sich zwischen 1946 und 1950 in einem Dorf bei Celle versteckt hielt und dort Hühner züchtete will er gehen und mit den Zetteln, die Paul bei sich trägt, erklärt er Johann, was an den Orten, an denen sie halt machen, stattgefunden hat.

 

Was man als erstes spürt, wenn man Johanns Bruder beginnt, ist die Verbundenheit der ungleichen Geschwister, denn die Nähe, die man beim Lesen zu ihnen bekommt, ist auch gleichzeitig das Beeindruckende an diesem Buch.
Die Handlung dahinter bleibt zwar dadurch ein bisschen auf der Strecke, aber trotzdem reicht das Wesentliche aus, um diese Geschichte zu etwas Besonderem zu machen.

Viel hat damit zu tun, dass Paul nicht handelt, sondern oft nur stumm zusieht. Wie der fanatische Vater beispielsweise seinen Bruder verprügelte, oder wie er unter dem wortlosen Weggang der Mutter litt. Und trotzdem schreit einem seine stille Verzweiflung laut von den Seiten entgegen.
Und auch Johann hat sein Päckchen zu tragen, denn er hat viel vergessen oder vergessen wollen. Durch Drogen ist ihm das auch weitestgehend gelungen, doch nun will er sich erinnern. Wieder und wieder bittet er Paul ihm Zettel zu reichen, auf denen seine Mutter beschrieben ist und diese Geste war für mich besonders anrührend, weil sie eine Art Versöhnung ausdrückt.

Nach und nach blättert Stephan Lohse die Geschichte der beiden Brüder auf und setzt die beschädigten Fragmente zusammen. Dabei kommt die erfahrende Gewalt nur Stück für Stück zum Vorschein und die Tiefe der Verletzungen lässt sich lange Zeit nur erahnen. Ähnlich wie kleine Kinder durch die vorgehaltene Hand und durch die Finger linsen, wenn etwas Schreckliches passiert.

Oft reisen die zwei unbequem mit dem Bus durch kleine Dörfer, immer nah an dem Breitengrad, der für Paul eine historische Verbindungslinie zwischen den Orten der nationalsozialistischen Verbrechen bildet. Doch warum er von der Vergangenheit unserer Geschichte so besessen ist, ja schon fast einen Bußgang mit dieser Reise absolviert, bleibt weitestgehend unbekannt.

Holocausts, Religion, Gewalt und Sprachlosigkeit – es ist viel, was der Autor hier nebeneinanderstellt, aber dadurch gibt er dem Leser auch die Möglichkeit, zwischen den unverbundenen Dingen eine eigene Verbindung herzustellen. Vieles bleibt lückenhaft und wir haben die Aufgabe, diese zu füllen.
Und das klappt, wenn man sich auf die Geschichte voll und ganz einlässt. Nicht zuletzt wegen der außergewöhnlichen Charaktere und der grandiosen Sprache.

 

 

Zwei Brüder, beide auf ihre eigene Weise aus dem Leben geworfen, treffen sich nach Jahren wieder und erleben einen Road Trip der anderen Art.

Johanns Bruder erzählt von Gewalt in der eigenen Familie und ergründet dunkelste Kapitel deutscher Vergangenheit. Beides gleichzeitig.

Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung!

 

 

♥ Vielen Dank an den Suhrkamp Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars! ♥

 

Über den Autor
Stephan Lohse, geboren 1964 in Hamburg, studierte Schauspielam Max Reinhardt Seminar in Wien und war unter anderem am Thalia Theater Hamburg, an der Schaubühne in Berlin und am Schauspielhaus in Wien engagiert. Sein Roman Ein fauler Gott (2017) stand auf der SWR-Bestenliste und war für den aspekte-Literaturpreisnominiert. Er lebt in Berlin.

Quelle: Suhrkamp Verlag

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert