Rezension Jocelyne Saucier – Was dir bleibt

Rezension Jocelyne Saucier – Was dir bleibt

Autor: Jocelyne Saucier
Titel: Was dir bleibt
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
Datum der Erstveröffentlichung: 28. September 2020
Buchlänge: 253 Seiten
Titel der Originalausgabe: Train Perdu
ISBN: 978-3-458-17878-1
Preis: HC 22,00€ / eBook 18,99€
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♥ Dieser Beitrag enthält Werbung, da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt 

 

 

Gladys ist 76 Jahre alt. Eines Tages besteigt sie ohne jede Ankündigung den Northlander-Zug, um spurlos aus ihrem kanadischen Dorf zu verschwinden. Die Nachbarn und Freundinnen sind besorgt, was mag sie dazu bewogen haben, ihr gut eingerichtetes Leben aufzugeben? Bald wird klar: Gladys reist über Tausende von Kilometern und in Dutzenden Zügen durch die Weiten Nordkanadas. Sie kehrt zurück an die Orte ihrer Kindheit und spricht auf ihrem Weg mit unzähligen Menschen. Doch was genau führt sie im Schilde, und vor allem: Aus welchem Grund hat sie ihre hilfsbedürftige Tochter Lisana zurückgelassen?

Quelle: Suhrkamp Verlag

 

 

 

Das Jahr 2020 ist ja für viele von uns nicht gerade das Beste. Ganz anders haben wir es uns vorgestellt, als wir 2019 noch über unsere Pläne und Vorsätze nachgedacht haben. Aber dann kam Corona und mit der weltweiten Pandemie Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen, Verzicht und Unsicherheit.
Ich beispielsweise, wollte die Sommerferien meiner Tochter mit meinem Mann in Schottland verbringen. Die Reise war lange geplant und die Vorfreude riesig. Doch, Achtung Spoiler, wir mussten alles über den Haufen werfen. Ich bin damit bestimmt nicht die Einzige, aber was soll man auch anderes machen als abwarten und hoffen, dass es nächstes Jahr vielleicht funktioniert.
Ja, was soll ich eigentlich machen, mit dem Fernweh, dass mich seit Monaten befällt?
Lesen, mit dem Kopf reisen, flüchten in die Orte der Welt, die ich wahrscheinlich nie mit eigenen Augen sehen werde.
Und genau dafür hab ich auch das richtige Buch gefunden: Was dir bleibt von Jocelyne Saucier.
Denn mit diesem Roman habe ich nicht nur Figuren kennengelernt, die ich so schnell wohl nicht mehr vergessen werde, sondern auch eine Zugstrecke und Teile von Kanada, die nun ganz oben auf meiner Reiseliste stehen.

 

Swastika ist wohl einer der ungewöhnlichsten Ortsnamen weltweit, denn im Deutschen wird das Zeichen, dass der Swastika ähnelt seit dem 18. Jahrhundert auch Hakenkreuz genannt. Aber nicht nur der Name dieses kleinen Städtchens ist erstaunlich, sondern auch das Leben und die Herausforderungen, vor die die Einwohner dort gestellt sind.

Gladys Comeau ist 76 Jahre alt und lebt, nach dem frühen Tod ihres Mannes, der als Bergarbeiter bei einem Grubenunglück starb, in der kleinen Siedlung Swastika in den nördlichen Wäldern Ontarios, an der Grenze zu Québec. Ihre Tochter Lisana, die bereits über 50 Jahre alt ist, lebt bei ihr. Bereits in jungen Jahren unternahm diese einen Suizidversuch, gilt seither bei den Nachbarn als depressiv und allein nicht lebensfähig.
Und dennoch verlässt Gladys eines Tages ihre Tochter und somit auch ihr Leben. Ohne Koffer und scheinbar unvorbereitet besteigt sie den Northlander-Zug und verschwindet – sie hat nie vor zurückkehren. Selbst ihre Tochter, die die Nachbarn am Küchentisch sitzend vorfinden, weiß nicht, wohin ihre Mutter will und was der Grund für ihren plötzlichen Aufbruch ist.
Als ein junger Eisenbahnfan davon hört folgt er ihrer Spur und begegnet dabei nicht nur besonderen Menschen, sondern auch Schicksalen in den unendlichen Wäldern in Kanadas Norden.

 

Unglaublich, wie viel Dezibel das arme Mädchen braucht. Sie muss immer Lärm um sich haben, sie braucht den ohrenbetäubenden krach, um aus ihrem Kopf rauszukommen, in eine Welt, wo niemand von ihr verlangt, anwesend zu sein. Sie will auf Abstand zu sich selbst gehen, so einfach ist das.
(Seite 75)

 

Jocelyne Saucier lässt die Geschichte und die Reise von Gladys von vielen Stimmen erzählen, allen voran aber von dem jungen Mann, der ihrer Route später nachgereist ist. Dabei spricht er mit Zugbegleitern und Menschen, die Gladys begegnet sind und ihr nahestanden und dieser Kniff der Erzählweise, dass wir nur durch Dritte von Gladys Motiven erfahren, überlässt es dem Leser oft selbst sie zu deuten.

Eine weiter Besonderheit in diesem Roman ist die Wiederentdeckung der School Trains, die damals in die entlegensten Ecken von Kanada fuhren, um den dort lebenden Kindern eine Schulbildung zu ermöglichen. Von 1926-1967 waren diese als Klassenzimmer umgebauten Eisenbahnwaggons im Einsatz, und die Autorin greift dieses Thema auf, weil die Geschichte der Züge selbst in Kanada oft schon vergessen ist.
Auch Saucier selbst reiste auf den Eisenbahnstrecken im Norden Kanadas und hat dort eine alleinstehende ältere Frau getroffen, die ihr nun als Inspiration für Was dir bleibt dient.

Und so begeben wir uns als Leser also auf eine außergewöhnliche Jagd nach der scheinbar verlorengegangenen Gladys.
Bedächtig und ohne Eile folgen wir ihr an verschiedene Orte und lernen Menschen kennen, nur um zum Ende hin immer dringlicher die Frage beantwortet bekommen zu wollen, warum sie das alles macht?
Warum sie ihre depressive Tochter erst 50 Jahre behütet und pflegt, um sie dann Knall auf Fall zu verlassen.
Dabei macht der schöne und bildreiche Schreibstil der Autorin es uns Lesern wirklich zu einem Vergnügen Gladys nachzureisen und manchmal passiert es, dass ich dadurch sogar die eigentliche Thematik fast vergessen habe – nämlich die Frage nach dem Was dir bleibt.
Eine endgültige Antwort gibt es darauf, wie Anfangs bereits erwähnt, nicht, die muss jeder für sich selbst finden, denn schließlich lautet sie für den von uns etwas anders.

 

Ich, der immer woanders sein wollte, ohne diesen Wunsch je in die Tat umzusetzen, habe endlich bekommen wonach ich mich gesehnt habe. Ich bin zum Beobachter einer Geschichte geworden, die mich nicht mehr loslässt.
(Seite 127)

 

Ich mochte die Abschweifungen des Ich-Erzählers, seine Sichtweise auf die Ereignisse und ich habe tatsächlich mein Herz im Laufe der Geschichte an Gladys verloren. An ihr Schweigen, das manchmal mehr sagt als 1000 Worte.
Für mich eine absolute Überraschung 2020 und ein Grund selbst einmal nach Kanada reisen zu wollen.

 

 

Lesen, genießen und nachspüren. Das ist die Empfehlung, die ich euch für Was dir bleibt von Jocelyne Saucier geben möchte.
Für mich ein außergewöhnlich großartiger Roman, der mich noch lange begleiten wird.

Klare Leseempfehlung!

 

 

♥ Vielen Dank an den Suhrkamp Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars! ♥

 

 

Über die Autorin
Jocelyne Saucier, geboren 1948 in der kanadischen Provinz New Brunswick, arbeitete lange als Journalistin, bevor sie mit dem literarischen Schreiben begann. Ihr vierter Roman Ein Leben mehr, der 2015 bei Insel erschien, war ein Bestseller und wurde verfilmt. Saucier lebt heute in einem Zehn-Seelen-Ort im Wald, im nördlichen Québec.

Quelle: Suhrkamp Verlag

 

 

 

 

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