Rezension Marius Hulpe – Wilde grüne Stadt

Rezension Marius Hulpe – Wilde grüne Stadt

Autor: Marius Hulpe
Titel: Wilde grüne Stadt 
Herausgeber: DuMont Verlag 
Datum der Erstveröffentlichung: 19. August 2019
Buchlänge: 400 Seiten
ISBN: 978-3-8321-8367-7
Preis: HC 24,00€ / eBook 18,99€
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 Dieser Beitrag enthält Werbung, da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt 

 

 

Iran, 1960. Der junge Reza wird vom Schah-Regime als Spion nach Europa verschickt. Studieren soll er, sich ein Leben aufbauen, Wissen sammeln und es in die Heimat transferieren. Über Umwege verschlägt es ihn ins erzreligiöse Westfalen, wo er auf Clara trifft, die in ihrer Heimat fremdelt und gegen die ständige Angst ankämpft, zu enttäuschen. Auch Reza taumelt in der Fremde. In ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung finden sie zueinander, doch die Fliehkräfte ihrer Geschichten torpedieren ein dauerhaftes Miteinander. Daran ändert auch die Geburt ihres Sohnes Niklas nichts, der sich schämt für die überbordende Liberalität seiner Eltern. Als Reza 1979 die Islamische Revolution live im Fernsehen verfolgt, begreift er, dass es kein Zurück gibt. Er kollabiert und gerät in Abhängigkeit – von einer Familie, deren Hoffnungen er selbst stets enttäuscht hat.
Fesselnd, sinnlich und einfühlsam dringt Marius Hulpe bis zum Kern dessen vor, was ein Familienleben heute bedeuten kann. Eindrucksvoll erzählt er davon, wie Ideologie und Repression, aber auch ein ungerichteter Freiheitsdrang ein Labyrinth ohne Ausweg bilden können. Ein souveränes, abgründiges, hellsichtiges Debüt. Ein Roman unserer Zeit.

Quelle: DuMont Verlag 

 

 

Es gibt Bücher, die sich gut und gerne mit der allseits bekannten Liebe auf den ersten Blick vergleichen lassen: Man liest die ersten Seiten und ist sofort Feuer und Flamme für die Geschichte und ihre Charaktere.
Und ich würde jetzt wirklich gerne behaupten, dass Wilde grüne Stadt von Marius Hulpe genau das für mich war, bietet diese Einleitung doch den perfekten Übergang dafür, aber manchmal muss Liebe auch wachsen – langsam und gemächlich.
Was es genau war, dass mich Anfangs nicht wirklich mit der Geschichte warm werden ließ, kann ich im Detail zwar nicht so genau benennen, doch die breite Masse an Protagonisten und die verschiedenen Zeitebenen, haben mit Sicherheit einen Teil dazu beigetragen.
Aber von Anfang an, worum geht es hier überhaupt?

Der junge Soldat Reza ist ein relativ aufmüpfiger Soldat, der sich nicht so einfach den Mund verbieten lässt, denn seine Herkunft aus einer wohlhabenden Familie hat ihn schon vor manch einer Bestrafung bewahrt – bis er jetzt vor seinen Vorgesetzten steht und womöglich sogar erschossen wird. Doch er hat Glück, landet lediglich im Kerker und wird aufgrund seines hellen Verstandes entlassen, um als Wirtschaftsspion in Deutschland zu studieren und sein gesammeltes Wissen an seine Heimat zu transferieren.
Über einige Umwege landet er schließlich in Westfalen, wo er Agrarwissenschaften studiert und zum ersten Mal Clara, der Tochter eines Kürschners, begegnet. Zwar werdend die beiden nie ein richtiges Paar, aber dennoch Eltern des kleinen Niklas, dessen Aufwachsen Reza nie richtig verfolgt. Dennoch ist er als Vater immer präsent: Sei es in den Beleidigungen, die Bekannte und Verwandte Niklas aufgrund seines Migrationshintergrundes entgegenschleudern, oder in den Vorurteilen, die sie ihm gegenüber entwickeln.  

„Es scheint, als befinde er sich plötzlich inmitten einer Parallelwelt zu seiner Heimat, was ihm wiederum schlagartig verdeutlicht, wie unmöglich es ist, in dieser Umgebung als Fremder einfach so zu sprechen, mit diesen Landleuten zu sprechen, von denen er nichts weiß, außer dass sie nichts über ihn wissen und ihn somit als das Fremdeste empfinden, das man sich ausmalen kann. Nichts anderes als das Wissen über sein Zuhause hindert ihn daran, hier und jetzt frei und für sich zu sprechen, denn das Sprechen auf dem Land ist ein anderes.“

Und so wechseln wir nun, zwar nicht chronologisch aber dafür ziemlich häufig, von 1960 bis 2011 im Leben von Reza, Clara und Niklas hin und her, ohne diesen Personen jedoch zu nahe zu kommen. Der Autor hält immer eine Gewisse Distanz aufrecht, die es mir persönlich sehr schwer gemacht hat, irgendeine Art von Beziehung zu seinen Protagonisten aufzubauen. Ich möchte nicht behaupten, dass mir ihre Schicksale egal gewesen wären, aber richtig emotional verbunden fühlte ich mich ihnen nie. Auch die klischeehaften Aussagen und der teileweise sehr poetische Sprachstil von Marius Hulpe wirkte mehr gekünstelt als passend und haben meinen Lesefluss doch recht häufig unterbrochen. 

Doch jetzt kommt das große Aber, denn trotz meiner Kritiken erzählt Wilde grüne Stadt eine große und großartige Geschichte, die viele Frage aufwirft.
Was ist Familie? Wie sehr prägt sie uns? Was bedeutet Heimat? Können wir uns einfach von gesellschaftlichen Zwängen lösen und frei sein? Und was bedeutet Freiheit?

Zwar beantwortet uns der Autor keine dieser Fragen und macht es seinen Figuren dadurch auch nicht leichter ihren Weg zu finden, aber das ist auch nicht nötig, der Kreis schließt sich am Ende auch so. Vielmehr legt er den Finger erst recht in eine Wunde aus Liebe, Herkunft und Politik und überlasst die leidvollen Erfahrungen Reza, Clara, Niklas und letztendlich aus uns. Er fordert uns auf selbst nachzudenken, zu urteilen und zu werten.
Im Großen und Ganzen eine gelungene Mischung aus Heimat- und Gesellschaftsroman, ganz ohne unnötige Gefühlsduselei. 

 

 

Wilde grüne Stadt von Marius Hulpe ist ein Buch über Entwurzelung und dem Kampf um die Entscheidungsgewalt über das eigene Leben. Es geht um das Aufbrechen von gesellschaftlichen Strukturen und darum seinen Weg zu finden, selbst wenn es aussichtslos erscheint.
Ein kluges Debüt, aber sicherlich nicht für jedermann – reinlesen und selbst entscheiden würde ich sagen. 

 

 

♥ Vielen Dank an den DuMont Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars! ♥

 

 

Über den Autor
Marius Hulpe, geboren 1982 in Soest, lebt nach Auslandsaufenthalten in Polen und Indonesien heute wieder in Berlin. 2008 erschien sein vielbeachteter erster Gedichtband ›Wiederbelebung der Lämmer‹ im Ammann Verlag. Es folgten die Bände ›Einmal werden wir‹ (2013) und ›Süße elektrische Nacht‹ (2014) sowie der Essay ›Der Polen-Komplex‹ (Hanser 2016). Für seine Gedichte, die in sieben Sprachen übersetzt und für Rundfunk und Bühne adaptiert wurden, erhielt er u. a. den Literaturförderpreis des Landes NRW, das LCB-Stipendium des Berliner Senats und das Stipendium der Villa Decius in Krakau. ›Wilde grüne Stadt‹ ist sein erster Roman.

Quelle: DuMont Verlag

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