Rezension Valerie Fritsch – Herzklappen von Johnson & Johnson

Rezension Valerie Fritsch – Herzklappen von Johnson & Johnson

Autor: Valerie Fritsch
Titel: Herzklappen von Johnson & Johnson
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
Datum der Erstveröffentlichung: 17. Februar 2020
Buchlänge: 174 Seiten
ISBN: 978-3-518-42917-4
Preis: HC 22,00€ / eBook 18,99€
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♥ Dieser Beitrag enthält Werbung, da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt 

 

 

Alma und Friedrich bekommen ein Kind, das keinen Schmerz empfinden kann. In ständiger Sorge um ihren Jungen, ist es vor allem Alma, die ihn unaufhörlich auf körperliche Unversehrtheit kontrolliert. Jeden Abend tastet sie das Kind ab, um keine Blessur zu übersehen. Und nichts fürchtet die junge Mutter mehr als die unsichtbare Verletzung eines Organs, die ohne ein Zeichen bleibt. Halt findet Alma bei ihrer Großmutter, die jetzt, hochbetagt und bettlägerig und nach lebenslangem Schweigen, zu erzählen beginnt: vom Aufwachsen im Krieg, von Flucht, Hunger und der Kriegsgefangenschaft des Großvaters. Mit dem Kind auf dem Schoß, das keinen Schmerz kennt, sitzt Alma am Bett der Schwerkranken, die sich nichts mehr wünscht, als ihren Schmerz zu überwinden. Und in den Geschichten der Großmutter findet sie eine Erklärung für jene scheinbar grundlosen Gefühle der Schuld, der Ohnmacht und der Verlorenheit, die sie ihr Leben lang begleiten.

Quelle: Suhrkamp Verlag 

 

 

 

Chronische Schmerzpatienten wünschen sich oft nichts weiter als einen Tag ohne Beschwerden und auch ich denke mir gerade mit meinen seit 3 Wochen anhaltenden Zahnschmerzen: Könnte ich sie doch einfach ausknipsen.
Aber wenn man mal tief in sich geht, wäre das Leben ohne Schmerzen auch nicht wirklich erstrebenswert und doch gibt es Menschen, die diese leidvolle Erfahrung machen müssen und die trifft es oft sehr hart.
Wenn nichts mehr weh tut spricht man von Analgesie – ein paar Buchstaben, die für die Abwesenheit von Schmerz stehen. Und genau darum geht es im Buch von Valerie Fritsch und um das Verbindende von Generationen.

 

Aufgrund einer genetischen Mutation kann der Junge Emil keinen physischen Schmerz spüren. Das heißt, wenn ihn die Erwachsenen bei Familienfeiern immer heftiger in die Backen zwicken, entlockt ihm das nicht die kleinste Reaktion. Dass das aber insofern durchaus schmerzhaft ist, zeigt sich durch Emils Familie, in der der Schmerz als wichtiger Faktor gilt, über den ständig geredet und über den sich definiert wird.
Schon Emils Urgroßvater zog in den Krieg gen Osten und verlor im Gefangenenlager zwei Zehen, brachte dafür aber ein unüberhörbares Schweigen mit. Und auch das kann schmerzhaft sein.
Zusammen mit Emils Urgroßmutter, einer in Distanz zur Welt lebenden Frau, bildet er im Roman Herzklappen von Johnson & Johnson den Dreh- und Angelpunkt des Schmerzes, der von ihnen ausgehend auf die nachfolgenden Generationen strahlt.
Denn schließlich wächst auch Enkelin Alma, Emils Mutter, in einer Umgebung auf, in der es bis auf den Schmerz nichts Authentisches gibt.

 

So musste Emil immer aufs Neue daran erinnert werden, dass man zu Weihnachten das heiße Backblech mit den Zimtsternen und Husarenkrapfen nicht mit bloßen Händen aus dem Ofen zog (…)
Dass der Körper Grenzen hatte und ihm eine Zerbrechlichkeit innewohnte, die es zu beschützen galt.
Stück für Stück verstand er, das Schwierigste aber war, ihm beizubringen, dass Selbstverletzung kein Zaubertrick und kein Kunststück war, mit dem man beeindrucken konnte, keine exotische Darbietung, nicht für sich selbst und nicht für andere.
(Seite 113)

 

Grob umrissen könnte man Herzklappen von Johnson & Johnson als Familienroman bezeichnen, aber ich habe das Gefühl, dass dieser Begriff der Geschichte nicht ganz gerecht wird.
Vielmehr erzählt Valerie Fritsch hier von vier Generationen, die im Bann einer verschwiegenen und verdrängten Schuld stehen, die bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zurückgeht.

In einer zartfühlenden Sprache zeigt die die Autorin ihre Charaktere zwar äußerlich unversehrt, aber innerlich zerrüttet und genau das macht den Roman auch für mich zu etwas besonderem. Der Schreibstil ist hier ganz klar die Stärke, der das Leben und die Schicksale in eine wortmächtige Prosa kleiden, denn hinter fast jedem Satz lauern Metaphern oder grandiose Formulierungen.
Bilder entstehen, wenn Emil beispielsweise vor dem zu Bett gehen eine Taucherbrille aufgesetzt bekommt, damit er sich im Schlaf nicht versehentlich die Augenhöhlen auskratzt und erzeugen dadurch eine tief beunruhigende Wirkung aber auch eine einzigartige Brillanz.

Dabei verzichtet sie jedoch gänzlich auf ausschweifende Erklärungen, lange Dialoge oder tiefergehende Charakterdarstellungen, sondern verlässt sich auf die Wirkung der wohl platzierten Worte.
Sie benötigt nicht mehr als 170 Seiten, um ihren Protagonisten ein glaubwürdiges Leben zu geben und hat ein besonderes Gespür für den Schmerz, den alltäglichen wie den außergewöhnlichen. Durch sie sieht man, was nicht zusammenpasst, was hätte sein sollen, aber nicht ist. Und wenn man zwischendurch die Zeit hat erstaunt aufzuatmen, nickt man gleichzeitig, so nach dem Motto: Genauso ist es!

Und jetzt fallen mir auch die zwei Worte ein, um den Roman abschließend zu bewerten: Literarisch intensiv, ja das ist Herzklappen von Johnson & Johnson.

 

 

 

Valerie Fritsch ist in meinen Augen eine ganz eigene Sprachkünstlerin, die mich mit Herzklappen von Johnson & Johnson vollkommen in ihren Bann gezogen hat. So wundersam und fein geschrieben, wie es bisher keinem Autor vorher gelungen ist.
Und darum gibt es von mir auch eine ganz klare Leseempfehlung!

 

♥ Vielen Dank an den Suhrkamp Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars! ♥

 

 

Über die Autorin
Valerie Fritsch, 1989 in Graz geboren, wuchs in Graz und Kärnten auf. Nach ihrer Reifeprüfung 2007 absolvierte sie ein Studium an der Akademie für angewandte Photographie und arbeitet seither als Photokünstlerin. Sie ist Mitglied des Grazer Autorenkollektivs plattform. Publikationen in Literaturmagazinen und Anthologien sowie im Rundfunk. 2015 erschien Winters Garten im Suhrkamp Verlag. Sie lebt in Graz und Wien.

Quelle: Suhrkamp Verlag

2 Kommentare

  1. 11. Oktober 2020 / 15:31

    Hey!
    Der Titel ist mir jetzt schon so oft begegnet, aber der Klappentext hat mich irgendwie beim allerersten Blick gar nicht angesprochen, weshalb ich das Buch auch schnell wieder vergaß.
    Nun habe ich es auf der Longlist des deutschen Buchpreises für dieses Jahr gesehen und dachte, ich muss nochmal nachsehen, worum es nun nochmal ging.
    Da kommt deine Rezi hier genau zum richtigen Zeitpunkt:)
    Deine Beschreibung der wohlplatzierten Worte auf nur 170 Seiten erinnert mich ein wenig an meinen Eindruck bei Delphine de Vigan. Kennst du ihre Bücher “Loyalitäten” und “Dankbarkeiten”?
    Auch hier war ich skeptisch, ob man denn auf so wenigen Seiten eine Geschichte mit Tiefgang erschaffen kann.
    Und musste besonders bei Letzterem feststellen, ja, es geht.:)
    Dass “Herzklappen…” nur 170 Seiten hat, wusste ich nicht, nun ist es doch mal eine Überlegung wert:)
    Lg, Kathrin

    • 12. Oktober 2020 / 10:56

      Hey Kathrin,
      ja bei mir war das ähnlich, denn auf das Buch bin ich auch nur durch die Longlist gekommen.
      Ich denke aber, dass das Buch nicht unbedingt für jedermann ist, denn ich kann mir auch vorstellen, dass viele eine ganz andere Erwartungshaltung an die Geschichte durch den Klappentext bekommen.

      Und ja! Delphine de Vigan ist eine meiner absoluten Lieblingsautoren und da muss ich sagen, kann dieses Buch nicht mithalten.
      Ich liebe ihre Geschichten und den Schreibstil – für mich eine der Besten überhaupt!

      Liebe Grüße,
      Nina

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