Rezension Samanta Schweblin – Hundert Augen

Rezension Samanta Schweblin – Hundert Augen

Autor: Samanta Schweblin
Titel: Hundert Augen
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
Datum der Erstveröffentlichung: 17. August 2020
Buchlänge: 252 Seiten
Titel der Originalausgabe: Kentukis
ISBN: 978-3-518-42966-2
Preis: HC 22,00€ / eBook 18,99€
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♥ Dieser Beitrag enthält Werbung, da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt 

 

 

Sie haben Häuser in Hongkong infiltriert, Geschäfte in Vancouver, die Straßen Sierra Leones, Marktplätze in Oaxaca, Schulen in Tel Aviv, Schlafzimmer in Indiana. Sie sind überall. Sie sind hier. Sie sind wir. Sie sind keine Haustiere, Geister oder Roboter. Sie sind wirkliche Menschen. Aber wie kann sich jemand, der in Berlin ist, frei durch ein Wohnzimmer in Sydney bewegen? Und wie kann jemand in Bangkok mit deinen Kindern in Buenos Aires frühstücken, ohne dass du davon weißt? Besonders wenn diese Person komplett anonym ist, unbekannt und unauffindbar?

Samanta Schweblin erzählt vom Vertrauen in Fremde, von wunderbaren Begegnungen und unerwarteter Liebe. Und davon, wie all diese Schönheiten in unsäglichen Terror umschlagen können.

Quelle: Suhrkamp Verlag

 

 

 

Wart ihr damals auch stolzer Besitzer eines Tamagotchis oder eines Furbies? Hattet ihr lange Spaß daran, oder ist euer Interesse ebenso schnell verfolgen, wie es gekommen ist?

Setzen wir doch jetzt nochmal eine Schippe drauf und reden über ein Buch, das ich vor kurzem beendet habe: Hundert Augen von Samanta Schweblin. Hier geht es nämlich ebenfalls um Hightech-Spielzeuge, nur können diese mittels einer Kamera ihre neuen Besitzer auch beobachten uns sich in ihrem neuen Zuhause relativ frei bewegen – und das nicht heimlich, nein, die neuen Herren wissen davon.

Ich muss ehrlich gestehen, dass mich schon lange kein so beklemmendes Gefühl während des Lesens beschlichen hat – und das sage ich, die potentielle Mithörer wie eine Alexa oder ihr Mobilfunkgerät jeden Tag nutzt – und trotzdem, oder gerade deswegen konnte ich das Buch fast nicht zur Seite legen.

 

Man könnte ja wohl kaum auf die Vernunft der Menschen bauen, und einen Kentuki zu haben, der frei bei einem herumlief, war, als würde man einem Fremden seine Hausschlüssel geben.
(Seite 44)

 

Kentukis heißen diese pelzigen Wesen, die eine Kombination aus Plüschtier auf Rädern und einem Smartphone darstellen und beispielsweise als Panda, Hase oder Maulwurf erworben werden können.
Das System ist denkbar einfach: Person 1 erwirbt das Tier, Person 2 die zufällig ausgewählten Zugangsdaten, um darauf zugreifen zu können. Dabei kann weder die Art bestimmt werden noch das Land oder gar der Ort, wo sich das Spielzeug befindet. Loggt er sich ein, kann er es lenken, seinen Herren beobachten und tierähnliche Geräusche von sich geben, doch sobald eine Verbindung getrennt wird, sei es durch einen leeren Akku oder durch unvorsichtige Handhabung, heißt es Abschied nehmen für immer, denn weder die Verbindung noch der Kentuki kann ein zweites Mal verwendet werden.

Die Autorin nutzt für ihren Roman das Phänomen, dass viele von uns Smartphones und andere technische Geräte, vor allem aber unsere Kameralinsen leichtfertig in unser Heim und unser Leben lassen. Klar, der Roman setzt auf meinen Vergleich schon nochmal einen drauf, aber wie oft teilen wir in den Sozialen Medien unseren Urlaub durch Videos oder Bilder? Wie oft fotografieren wir uns in alltäglichen Situationen und lassen so oft wildfremde Menschen an unserem Leben teilhaben? Natürlich steuern wir das in diesem Moment, schließlich entscheiden wir, was wir teilen oder nicht, aber Ähnlichkeiten sind mit Hundert Augen definitiv nicht von der Hand zu weisen.

 

Sie würde sich auf Erfurt konzentrieren und auf das Mädchen, das ihr Leben nicht richtig im Griff hatte. Um ihr eigenes Leben und das ihres Sohnes würde sie sich später kümmern, sie hatte schließlich alle Zeit der Welt.
(Seite 142)

 

Und realistisch ist diese Geschichte allemal, denn wie schnell bilden sich rechts- und moralfreie Räume? Sind die Kentukis reale Personen, verdienen sie Schutz? Kann und muss man als Beobachter bestimmte Dinge zur Anzeige bringen? In Hundert Augen wird das von der Polizei verneint, denn eine Verbindung kann nicht zurückverfolgt werden. So haben nicht nur Pädophile freie Bahn, aber mal ganz ehrlich? Sind die Leute daran dann nicht selber schuld?
Mögen die Kentukis an sich vielleicht Science-Fiction sein, die Story an sich ist es auf jeden Fall nicht.

Im Buch geht es viel um Voyeurismus und was dieser mit uns macht. Es wirft ethnische Fragen auf, kann aber auch betroffen machen als beispielsweise ein Kentuki nach dem Tod seines Herren selbst in den Tod springt. Menschen nutzen dieses technische Spielzeug auf unterschiedliche Art und Weise und aus unterschiedlichen Gründen: Mal bekämpft eine Frau damit ihre Einsamkeit, mal benutzt ein Vater ihn dazu, ein Auge auf seinen Sohn zu werfen.

Was ist also das Größte Problem: Sind es wir Menschen oder die Technologie selbst?

 

 

 

In Hundert Augen porträtiert Samanta Schweblin sowohl Kentuki-Besitzer als auch ihre User und lässt die Frage aufkommen, warum wir so fasziniert von verborgenen Blicken in das Leben fremder Menschen sind.
Für mich ein rundum gelungener Roman, den ich definitiv verschenken und ganz vielen Personen empfehlen möchte!

Unbedingt lesen!

 

 

♥ Vielen Dank an den Suhrkamp Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars! ♥

 

 

Über die Autorin
Samanta Schweblin wurde 1978 in Buenos Aires geboren. Für ihren Erzählungsband Die Wahrheit über die Zukunft erhielt sie 2008 den Premio Casa de las Américas sowie den Juan-Rulfo-Preis, für den Band Sieben leere Häuser erhielt sie den Premio de narrativa breve Ribera del Duero de España. Ihre Bücher sind in 25 Sprachen übersetzt. Samanta Schweblin lebt und arbeitet in Berlin.

Quelle: Suhrkamp Verlag

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