Rezension Adeline Dieudonné – Das wirkliche Leben

Rezension Adeline Dieudonné – Das wirkliche Leben

Autor: Adeline Dieudonné
Titel: Das wirkliche Leben
Herausgeber: dtv Verlag
Datum der Erstveröffentlichung: 24. April 2020
Buchlänge: 240 Seiten
Titel der Originalausgabe:  La Vraie Vie
ISBN: 978-3-423-28213-0
Preis: HC 18,00€ / eBook 14,99€
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♥ Dieser Beitrag enthält Werbung, da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt 

 

 

Eine Reihenhaussiedlung am Waldrand, wie es viele gibt. Im hellsten der Häuser wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit seiner Familie. Alles normal. Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters, der neben TV und Whisky vor allem den Rausch der Jagd liebt.
In diesem Sommer erhellt nur das Lachen ihres kleinen Bruders Gilles das Leben des Mädchens. Bis eines Abends vor ihren Augen eine Tragödie passiert. Nichts ist mehr wie zuvor. Mit der Energie und der Intelligenz einer mutigen Kämpferin setzt das Mädchen alles daran, sich und ihren Bruder vor dem väterlichen Einfluss zu retten. Von Sommer zu Sommer spürt sie immer deutlicher, dass sie selbst die Zukunft in sich trägt, wird immer selbstbewusster – ihr Körper aber auch immer weiblicher, sodass sie zusehends ins Visier ihres Vaters gerät.

Quelle: dtv Verlag

 

 

 

Kennt ihr auch dieses unbeschreibliche Gefühl, das sich in eurem Bauch einnistet, wenn ihr ein Buch ohne Erwartungshaltung in die Hand nehmt und es euch so fesselt, dass ihr es am liebsten an einem Abend beginnen und beenden wollt? Ihr könnt nicht mehr aufhören, weil euch der Inhalt so fesselt, beschäftigt und nicht mehr loslässt?
Nein? Dann versucht es mal mit Das wirkliche Leben, denn ich konnte wirklich nicht anders, als genau das zu tun!

Als Peter Tschaikowskys berühmter Blumenwalzer den Wagen des Eismannes ankündigt und der Verkäufer einem Mädchen ein Eis mit Sahne zusammenstellt, passiert etwas Ungeheuerliches. Während Erwachsene diesen Moment vielleicht einfach nur mit schwarzem Humor abtun könnten, ist er für Kinder jedoch das pure Grauen.
So nimmt das Unglück seinen Lauf: Der kleine Gilles ist traumatisiert und verliert sich erst in Schweigen, später in Gewalt, während die Erzählerin, seine Schwester, sich schuldig fühlt. Aber schließlich findet sie eine Möglichkeit alles wieder in Ordnung zu bringen und opfert von nun an ihre gesamte Freizeit und all ihr Tun dem Bau einer  Zeitmaschine, mit der sie in die Vergangenheit reisen und den damaligen Vorfall ungeschehen machen möchte – um ihren mittlerweile sadistisch gewordenen Bruder ein Leben zu ermöglichen, dass den Namen Kindheit verdient hat. Und obwohl das Mädchen über eine beachtliche Resilienz verfügt, ist auch sie nicht gegen die Übergriffe ihres Vaters gefeit, der die Familie zu zerstören droht.

 

Da rief ich mir ins Gedächtnis, dass das, was ich da sah, letztlich nicht von Bedeutung war – weil ich schon bald mit meiner Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen würde. In meiner neuen Zukunft, in meinem wirklichen Leben würde all das nicht geschehen.
(Seite 50)

 

Ich habe in den letzten Monaten ziemlich viele Coming-of-Age Romane gelesen, aber selten war einer so brutal, grenzüberschreitend und spannend wie Das wirkliche Leben. Dabei sollte man vielleicht noch erwähnen, dass dieser auch gleichzeitig das Debüt von Autorin Adeline Dieudonné darstellt und der Fakt, hat mich mindestens genauso umgehauen, wie das Buch selbst.

Die Sprache ist derb, reduziert, ungeschönt und trotzdem an die kindliche Ehrlichkeit und Fantasie der anfangs 10-jährigen, namenlosen Protagonistin, angepasst, die uns auch durch die Handlung führt.
Jeder Satz sitzt und geht einem wie eine Nadel unter die Haut und obwohl relativ schnell klar wird, dass es hier kein Happy End geben kann – körperliche und seelische Schäden werden definitiv zurückbleiben, hofft man auf das Beste. Die Hauptprotagonistin selbst mag dabei zwar etwas holzig und oftmals konstruiert wirken, trotzdem mochte ich sie, diese entfernte Schwester von Pippi Langstrumpf – weil sie mutig, erfinderisch und zugleich empfindsam ist. Sie nimmt einen als Leser an die Hand und zeigt ihre alltäglichen und abscheulich gewalttätigen Lebensverhältnisse, die man zwar von oben herab betrachten kann, aber immer wieder eine Gänsehaut verursachen, als wäre man hautnah mit dabei. Und obwohl der Roman ausschließlich im Sommer spielt (die anderen Jahreszeiten werden übersprungen), verspürte ich trotz der schwülen Temperaturen ein Frösteln im Nacken, das mich über die knapp 240 Seiten auch nie wirklich verließ.
Die Themen, die die Autorin anspricht, sind vielschichtig und bewegend, verstörend und brutal. Es geht um die persönliche Entwicklung, Schuld, Hoffnung, Gewalt, Liebe und die unterschiedlichen Auswirkungen auf ein Leben, die ein grausam-absurder Unglücksfall haben kann.

Gegen Ende steht im Roman: Es heißt, dass die Stille, die auf Mozart folgt, immer noch Mozart ist – aber die Stille, die auf Das wirkliche Leben folgt, ist Schockstarre. Denn Adeline Dieudonnés Roman ist wie ein Faustschlag, von dem man sich erst mal erholen muss.

 

 

 

Das wirkliche Leben ist ein Buch, das vom Kampf ums Menschsein und Menschbleiben erzählt.
Vom festen Entschluss einer mutigen Protagonistin, die nicht zum Opfer ihres Lebens werden will, um  ihrem jüngeren Bruder das Leben zu schenken, dass den Namen Kindheit verdient hat.

 

 

♥ Vielen Dank an den dtv Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars! ♥

 

 

Über die Autorin
Adeline Dieudonne´, 1982 geboren, lebt mit ihren beiden Töchtern in Brüssel und ist und ist von Beruf Theaterschauspielerin. Nach preisgekrönten Erzählungen und einem erfolgreichen One-Woman-Theaterstück war sie mit diesem Romandebüt der Shootingstar der Rentrée littéraire 2018. ›Das wirkliche Leben‹ wurde mit 14 (!) Literaturpreisen ausgezeichnet und war der Lieblingstitel des französischen Buchhandels.

Quelle: dtv Verlag

 

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