Rezension Benjamin Myers – Offene See

Rezension Benjamin Myers – Offene See

Autor: Benjamin Myers
Titel: Offene See
Herausgeber: Dumont Verlag
Datum der Erstveröffentlichung: 07. April 2020
Buchlänge: 270 Seiten
Titel der Originalausgabe:  The Offing
ISBN: 978-3-8321-8119-2
Preis: HC 20,00€ / eBook 15,99€
Erwerben

 

♥ Dieser Beitrag enthält Werbung, da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt 

 

 

Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen. In den Gesprächen mit Dulcie wandelt sich sein von den Eltern geprägter Blick auf das Leben. Als Dank für ihre Großzügigkeit bietet er ihr seine Hilfe rund um das Cottage an. Doch als er eine wild wuchernde Hecke stutzen will, um den Blick auf das Meer freizulegen, verbietet sie das barsch. Ebenso ablehnend reagiert sie auf ein Manuskript mit Gedichten, das Robert findet. Gedichte, die Dulcie gewidmet sind, die sie aber auf keinen Fall lesen will.

Quelle: Dumont Verlag    

 

 

 

Könnt ihr euch noch erinnern, in welchem Buch ihr euch zuletzt so richtig verloren habt? Bei welcher Geschichte ihr richtig tief in die Seiten abgetaucht seid und alles um euch herum vergessen habt?
Und merkt ihr eigentlich sofort, dass ihr solch einen seltenen Schatz in den Händen haltet oder trifft euch die Erkenntnis auch größtenteils unverhofft?

Als ich mit Offene See begonnen habe, war ich zuerst wenig angetan, denn Bücher, die kurz vor, während oder kurz nach dem zweiten Weltkrieg spielen, konnten mich noch nie so richtig fesseln. Woran das liegt weiß ich leider selbst nicht genau, aber oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass mich diese Zeit um 1940 auf dem Papier schnell langweilt – wie gesagt, fragt nicht warum.
Aber dann kam ein mir bis dato unbekannter Autor namens Benjamin Myers und hat mir gezeigt, dass es nicht auf das Jahr ankommt, in der ein Roman spielt, sondern auf die Magie der Worte, die eine Geschichte bilden und dich urplötzlich mitreißen, ebenso wie die Offene See.

 

Hier war Leben, geschah überall um mich herum und in mir und durch mich hindurch, in dieser neuen Zeit des Wachsens und Werdens, dieser Phase des ungehemmten Entstehens.
(Seite 30)

 

Wo ist das Leben geblieben? Diese Frage stellt sich der Ich-Erzähler Robert Appleyard zu Beginn in einer kurzen Rahmenhandlung, als er auf sein Leben zurückblickt.
England, im Frühjahr 1946. Der Zweite Weltkrieg ist zwar vorüber, als der damals 16 jährige Robert endlich mit der Schule fertig ist, aber in den Köpfen und Herzen der Menschen noch sehr lebendig. Noch weiß Robert nicht genau, was er konkret mit seinem Leben anfangen will, doch bevor er zusammen mit seinem Vater in die dunklen Schächte des hiesigen Bergwerks steigen muss, will er erst einmal eine Ahnung von seinem wahren Ich bekommen und das Königreich Anderswo bereisen.
So zieht er los, nur das Notwendigste im Rucksack verstaut, streift durch die Natur und lebt von der Hand in den Mund.
Eines Tages kommt er zufällig an einem kleinen, verwilderten Cottage vorbei und trifft dort auf die Bewohnerin Dulcie Piper, die ihn sofort großzügig bewirtet. Schnell wird Robert klar, dass Dulcie anders ist, als die Menschen, denen er bisher in seinem Bergdorf begegnet ist, doch die Sehnsucht nach dem Meer treibt ihn am nächsten Tag zum Aufbruch. Aber schon kurz danach kommt er zurück zum Cottage und bleibt. Von da an erledigt er verschiedene Aufgaben und kümmert sich um Besorgungen und den Wildwuchs im Garten, Dulcie hingegen revanchiert sich dafür mit intensiven Gesprächen, köstlichen Mahlzeiten und guter Literatur, denn obwohl sie tief im inneren voller Schmerz und Traurigkeit ist, weiß sie das Leben zu genießen. Robert indes ahnt noch nicht, in welche Bahnen ihn diese Begegnung lenken wird.

 

Es wird zu einem Kieselstein reduzieren und dann irgendwann zu nichts, wie wir alle. Es erinnert daran, dass nichts von Dauer ist. Alles ist im Fluss. Und die Natur trägt immer den Sieg davon.
(Seite 265)

 

Offene See ist ein Buch der leisen Töne, strotzt aber geradezu von Poesie und Sinnlichkeit. Es ist ein Buch, in dessen Seiten man sich einfach nur verlieren möchte, weil es schlicht und ergreifend wunderschön geschrieben ist. Dabei beschreibt Benjamin Myers immer wieder beeindruckend detailverliebt die Natur und die Landschaft, die Robert umgibt und auch die Gefühlswelt der beiden Protagonisten steht hierbei stark im Vordergrund. Dulcie lehrt Robert das Leben, erweitert seinen Blick und mit ihm gemeinsam bewältigt sie ihre Trauer.

Seite um Seite verfolgt man die beiden auf ihrem Weg zurück ins Leben und dabei entsteht ein Sog, dem man sich nur allzu gerne vollkommen hingibt – und wenn ganz am Ende gezwungenermaßen von den Buchseiten aufschaut, steht man noch immer auf dieser grünen Wiese vor Dulcies Cottage und sucht den Blick auf das Meer.

Ich habe mich in Offene See verloren, wiedergefunden und neu entdeckt. Ich habe geträumt, gelitten und mitfühlend genickt und mich auch ab und an bei dem Gedanken erwischt ebenfalls meine sieben Sachen zu packen, um meiner persönlichen Dulcie zu begegnen.
Benjamin Myers hat es geschafft, mir mit der Schönheit seiner Worten die Tränen in die Augen zu treiben ohne dabei richtig traurig zu sein, denn er erweckt so viel Sehnsucht und Hoffnung, aber auch eine große Portion Fernweh, sodass ich mir sicher bin irgendwann einmal selbst die wunderschönen Küstenorte Yorkshires zu besuchen.

 

 

Offene See ist ein Buch über Freundschaft und Verlust. Ein kunstvoll erzählter Roman über die Liebe zur Literatur, über das Leben an sich und die selbst gesteckten Lebensziele.
Von mir gibt es darum auch eine absolute Leseempfehlung und wer danach etwas ähnliches sucht, dem kann ich Alte Sorten von Ewald Arenz, ebenfalls aus dem Dumont Verlag, sehr ans Herz legen.

 

 

♥ Vielen Dank an den Dumont Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars! ♥

 

 

Über den Autor
Benjamin Myers, geboren 1976, ist Journalist und Schriftsteller. Myers hat nicht nur Romane, sondern auch Sachbücher und Lyrik geschrieben. Für seine Romane hat er mehrere Preise erhalten. Er lebt mit seiner Frau in Nordengland.

Quelle: Dumont Verlag

 

 

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert