Rezension Neal Shusterman – Kompass ohne Norden

Rezension Neal Shusterman – Kompass ohne Norden

Autor: Neal Shusterman
Titel: Kompass ohne Norden
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG 
Datum der Erstveröffentlichung: 20. August 2018
Buchlänge: 353 Seiten
Titel der Originalausgabe: Challenger Deep
ISBN: 3446260463
Preis: HC 19,00€ / eBook 14,99€
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 Dieser Beitrag enthält Werbung, da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt 

 

 

Caden hält sich für einen normalen Jungen. Doch sein Verstand ist ein krankhafter Lügner, der sich auf fantastische Reisen begibt. Manchmal befindet Caden sich auf dem Weg zum tiefsten Punkt der Erde im Marianengraben, auf einem Schiff, auf dem die Zeit seitlich läuft wie eine Krabbe, verwittert von Millionen Fahrten, die bis in die finstere Vergangenheit zurückreichen. Und in der Realität lässt Cadens Verstand harmlose Dinge wie einen Gartenschlauch zur tödlichen Gefahr werden. Als die Grenze zwischen realer und fantastischer Welt verschwimmt, begreift Caden: In den Tagen der Bibel hätte er vermutlich als Prophet gegolten, doch heute lautet die Diagnose: Schizophrenie.

Quelle: Carl Hanser Verlag

 

 

Die Leute glauben, dass er Riesen sah, wenn er sie anschaute, aber wer selbst so weit war, kennt die Wahrheit. Er sah Windmühlen wie alle anderen auch – aber er glaubte, sie wären Riesen. Nichts macht mehr Angst, als nie zu wissen, was du im nächsten Moment glauben wirst.

(Seite 344)

Ein Schiff auf dem Weg zum Mariengraben. An Bord die Schiffsbesatzung, inklusive einem einäugigem Piratenkapitän nebst Papagei, eine Menge Giftcocktails und ein 15 jähriger Junge namens Caden, dessen Gedankenstimmen ihm sagen, welcher Kurs eingeschlagen werden soll.
Klingt verrückt?
Bestimmt nicht, denn Caden hat viele besondere Fähigkeiten, die ihm beispielsweise erlauben Kernspintomografen in Kanonen zu verwandeln oder Dinge zu sehen, die gar nicht da sind.
Von der Schiffscrew wird er als Held gefeiert, aber Lehrer, Freunde und Familie machen sich bald ernsthaft Sorgen um ihn.

 

 

Früher hatte ich Angst vorm Sterben. Jetzt habe ich Angst, nicht zu leben. Das ist der Unterschied…
… Tote Kinder werden aufs Podest gestellt, psychisch kranke Kinder unter den Teppich gekehrt.

(Seite 188)

Wie beginnt man eine Rezension zu einem Buch, das einem so wichtig vorkommt, dass es fast schon wehtut?
Vielleicht mit einem Dank? Einer Bitte? Ich weiß es nicht, denn auch ein Lob, ganz gleich wie ich es formuliere, reicht hier definitiv bei weitem nicht aus.
Also habe ich mich für eine Rezension aus dem Bauch heraus entschieden.
Eine, die ich so in dem Ausmaß noch nicht geschrieben habe, weil man doch irgendwie immer versucht objektiv und geordnet die wichtigsten Punkte aufzuführen – aber bei „Kompass ohne Norden“ gelingt mir das einfach nicht.
Bei diesem Buch kann ich weder die Grammatik, noch den Schreibstil bewerten, denn es geht um sehr viel mehr als das. Es ist ein sehr persönlicher Überlebenskampf mit all seinen Auswirkungen auf das gesamte Umfeld.

Schon das Vorwort von Neal Shusterman hat mich vermuten lassen, dass ich hier etwas ganz Besonderes in den Händen halte, denn allein das zu lesen hat den Kloß in meinem Hals zu einem Medizinball anschwellen lassen. Manche Autoren brauchen dafür 400 Seiten, Neal Shusterman hat das nach nicht einmal zwei geschafft.
Er erwähnt, dass die Geschichte, die er dem Leser hier von Caden erzählt mehr ist, als nur ein Fantasiegespinst. Zu gewissen Teilen spiegelt es sein Familienleben und das seines Sohnes Brendan wieder, der genau wie sein Protagonist Caden unter Schizophrenie leidet.

Aber Moment. Schizophrenie? Schizo? Kenn ich, hab ich früher oft als Schimpfwort auf dem Pausenhof gehört! Das ist doch die „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ Krankheit oder? Eine Art Persönlichkeitsspaltung?
Nein.
Der Begriff Schizophrenie ist die Bezeichnung für eine Erkrankung des Gehirns, welche zu Emotionslosigkeit, Wahnvorstellungen, Halluzinationen (häufig Stimmenhören, seltener optische Halluzinationen) und Realitätsverlust führen kann. Männer sind zwar gleich häufig betroffen wie Frauen, erkranken aber tendenziell früher im Leben, d.h. durchschnittlich zwischen der Pubertät und dem 25. Lebensjahr. Die Ursachen, wie eine Schizophrenie entsteht, sind bis heute allerdings nicht abschließend erklärt.
(Quelle: Leben mit Schizophrenie )

 

Aber genug belehrt und aufgeklärt, zurück zur Rezension, die eigentlich keine ist.
„Kompass ohne Norden“ ist definitiv nicht mein erster Roman, der psychische Krankheiten thematisiert und mir mittels eines Protagonisten näher bringen möchte. Aber „Kompass ohne Norden“ ist MEIN erstes Buch, das mir gezeigt hat, wie differenziert das Ganze von Person zu Person zu sehen ist. Wie es möglicherweise in einem Gehirn eines Patienten aussieht und wie unterschiedlich und schwierig es ist, die richtige Medikamenteneinstellung für jeden Einzelnen zu finden. Wann, wie lange und wie wirken diese Heilmittel? Was passiert wenn diese falsch dosiert oder gar abgesetzt werden?
Solche Einblicke haben mir unwahrscheinlich geholfen diese Krankheit und den Menschen dahinter besser zu verstehen – und das nicht nur für den Moment. Immer noch hallen gewisse Abschnitte und Bilder in meinem Kopf wieder und zwingen mich mehr und mehr über dieses Thema in Erfahrungen bringen zu wollen.
Aber es sensibilisiert auch unwahrscheinlich genauer hinzusehen. Ein Mensch, der uns durch sein Aussehen und seine Art sich zu benehmen auf der Straße auffällt, weil er vielleicht wirr redet oder Dinge tut, die für uns nicht logisch erscheinen mögen, ist nicht nur ein armer Irrer.
Klar, Stempel drauf und einfach weitergehen ist einfach, aber das kann ich persönlich nach diesem Buch nicht mehr. Denn Neal Shusterman hat mir gezeigt, dass viele einen inneren Kampf austragen, der nicht Mitleid sondern Respekt verdient. 

Du möchtest allein gelassen werden, hast aber Angst, allein gelassen zu werden. Sie hören dir zu, aber sie hören dich nicht, und die Stimmen sagen dir, dass deine Eltern ein Teil des Problems sind. “Sie sind nicht deine richtigen Eltern, oder?“, sagen die Stimmen. “Sie sind Schwindler. Deine richtigen Eltern wurden von einem Nashorn gefressen.“ Das weißt du von James und der Riesenpfirsich.

(Seite 143)

Danke Neal Shusterman, dass du diese einzigartige und mutige Geschichte mit uns geteilt hast – Du hast mich damit zu Tränen gerührt. Danke, dass du mich ein Stück weit in dein Leben gelassen hast, um an Brendans Leben teilzuhaben. Ich finde es enorm mutig so offen über dieses Thema zu sprechen, da wir Menschen oft lieber urteilen als verstehen.
Danke für Caden, die Piraten und die Schiffsbesatzung, aber vor allem für deine Ehrlichkeit und das Ende.
Man darf hier nämlich keine Wunderheilung erwarten, die Caden wiederfährt. Psychische Leiden werden zwar medikamentös behandelt, aber die Krankheit selbst bleibt oft ein Leben lang. 

 

 

Neal Shusterman hat mich mit seinen Worten bewegt, beeindruckt und berührt. Aber er hat mir auch die Augen geöffnet und mir bewusst gemacht, wie befangen und voreingenommen wir häufig mit psychischen Krankheiten und den Betroffenen selbst umgehen.

Für „Kompass ohne Norden“ gibt es von mir keine Leseempfehlung, sondern einen Lesebefehl!

 

 

♥ Vielen Dank an den Hanser Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars! ♥

 

 

Über den Autor

Neal Shusterman ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Autoren für Kinder und Jugendliche. Er wuchs in Brooklyn auf und studierte in Kalifornien Psychologie und Theaterwissenschaften. Kompass ohne Norden basiert auf Shustermans Erfahrungen mit der Schizophrenie seines Sohnes und wurde 2015 mit dem National Book Award ausgezeichnet. Die deutsche Ausgabe erscheint im Herbst 2018 bei Hanser.

Quelle: Carl Hanser Verlag 

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