Rezension Hengameh Yaghoobifarah– Ministerium der Träume

Rezension Hengameh Yaghoobifarah– Ministerium der Träume

Autor: Hengameh Yaghoobifarah
Titel: Ministerium der Träume
Herausgeber: Aufbau Verlag
Datum der Erstveröffentlichung: 05. Februar 2021
Buchlänge: 384 Seiten
ISBN: 978-3351050870
Preis: HC 22,00€ / eBook 16,99€
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♥ Dieser Beitrag enthält Werbung, da es sich um ein Rezensionsexemplar handelt 

 

 

Als die Polizei vor ihrer Tür steht, bricht für Nas eine Welt zusammen: ihre Schwester Nushin ist tot. Autounfall, sagen die Beamten. Suizid, ist Nas überzeugt. Gemeinsam haben sie alles überstanden: die Migration nach Deutschland, den Verlust ihres Vaters, die emotionale Abwesenheit ihrer Mutter, Nushins ungeplante Mutterschaft. Obwohl ein Kind nicht in ihr Leben passt, nimmt Nas ihre Nichte auf. Selbst als sie entdeckt, dass Nushin Geheimnisse hatte, schluckt Nas den Verrat herunter, gibt alles dafür, die Geschichte ihrer Schwester zu rekonstruieren – und erkennt, dass Nushin sie niemals im Stich gelassen hätte.

Quelle: Aufbau Verlag

 

 

 

Ich weiß gar nicht mehr genau was es war, dass mir dem Impuls dazu gegeben hat beim Durchblättern der Verlagsvorschau des Aufbau Verlags Ministerium der Träume ganz oben auf meine Wunschliste zu stellen, aber im Nachhinein betrachtet spielt es auch keine Rolle mehr. Denn so weit oben es damals auch auf meiner Wunschliste stand, steht es heute ebenso weit oben auf meiner bisherigen Liste der Jahreshighlights aus 2021.
Und ich bin mir durchaus im Klaren darüber, dass 2021 noch lang ist, doch gleichzeitig bin ich mir schon jetzt sicher, dass kein Buch so ähnlich sein wird, wie das Debüt von Hengameh Yaghoobifarah.

 

Die zwei Schwestern Nushin (ist gerade eingeschult worden) und Nasrin (etwas älter) sind 1981 gemeinsam mit ihrer Mutter von Teheran nach Deutschland geflohen und warten seitdem auf die Ankunft ihres Vaters, der vorerst zurückbleiben musste.
Die Stimmung in der kleinen Familie ist von Anfang an angespannt, kippt jedoch gefährlich, als sie kurze Zeit später die Nachricht von der Hinrichtung des Vaters aus dem Irak erreicht.
Seitdem versteckt sich die Mutter vor dem Fernsehen, um dort ihren Tränen freien Lauf zu lassen, während die Kinder wohl oder übel die Zähne zusammenbeißen müssen – daran ändert auch der spätere Umzug nach Lübeck nichts.
Und auch im Erwachsenenalter von Nasrin setzt eine Katastrophe nach der nächsten ein, als zwei Polizisten ihr eröffnen, dass die mittlerweile alleinerziehende Nushin bei einem Autounfall tödlich verunglückt ist. Während Nasrin jedoch eher an einen Selbstmord glaubt, vermutet ihre Nichte Parvin, deren Vormund sie nun ist, eine größere Sache hinter dem Tod ihrer Mutter.
Und mit Rückblenden, Erinnerungen und Gegenwartserzählungen versucht man nun gemeinsam Licht ins Dunkel zu bringen.

 

Auch wenn der Titel Ministerium der Träume eher nach einem Buch klingt, in dem Harry Potter seine Finger im Spiel haben könnte, kann ich euch gleich versichern, dass hier nichts, aber auch gar nichts magisches passiert. Denn weder Harry, noch das im Titel genannte Ministerium kommen vor, dafür aber jede Menge Träume, die leider auch das ein oder andere Traum nach sich ziehen.
Doch wie viele davon kann ein Mensch aushalten?

Das erfahren wir durch die Augen von Nasrin, die mittlerweile in ihren Vierzigern angekommen ist, in Berlin als Türsteherin arbeitet und sich selbst eine migrantische Lesbe nennt.
Sie ist tief in der queeren Szene verwurzelt und fühlt sich dort zum ersten Mal richtig angenommen, doch der Tod / Selbstmord / Mord von Schwester Nushin wirft ihr Leben abermals aus der Bahn. Die Mutterrolle, die sie für ihre Nichte Parvin übernimmt, scheint alles andere als leicht. Immer wieder belügen und streiten sie sich – Parvin beschimpft Nasrin sogar als abnormal – und als wäre das nicht genug, mischt sich auch noch Nasrins Mutter mit ein, zu der sie aufgrund ihrer gewalttätigen und homophoben Art eigentlich sehr wenig Kontakt pflegt.

Wir erleben Träume, Alltag, Streitereien, Nöte und Erinnerungen an längst Vergessenes. Sexuelle Übergriffe, Rassismus, Vorurteile, Gewalt in und außerhalb der Familie, Freundschaft, Verrat und albtraumhafte Realität.
Es ist ein kraftvolles, schnelles und gewaltiges Buch, das Hengameh Yaghoobifarah hier geschrieben hat und es lässt einen bis zum Ende (und darüber hinaus) nicht los.
Es fühlt sich nah und lebensecht an, wenn die Autorin über Nasrins Schmerz und Wut über den Verlust ihrer Schwester schreibt und auch die verschiedenen Zeitebenen sind spannend und irgendwie fast schon alptraumhaft gut miteinander verwoben.
Die Sprache ist teilweise sehr rau (Augen nach vorne, Kümmelfotze), findet dadurch aber auch eine ganz eigene Dynamik und passt sich somit sehr gut an den inneren Pöbelmodus von Nasrin an.
Und ehe man sich versieht, steckt man mitten in den Konflikten der Protagonisten, statt dass man ihn nur als Unbeteiligter von außen betrachtet – ein Hoch auf die Literatur!
Wer also wissen will, wie es sich anfühlt in Deutschland zu leben, sollte Ministerium der Träume unbedingt lesen.

 

 

Bildreich, traurig, ernst und doch irgendwie poppig: Ministerium der Träume von Hengameh Yaghoobifarah lässt uns in eine Welt blicken, von der man, auch wenn sie direkt vor der Haustür liegt, viel zu wenig Ahnung hat.

Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung!

 

 

♥ Vielen Dank an den Aufbau Verlag für die Zusendung des Rezensionsexemplars! ♥

 

 

Über die Autorin
Hengameh Yaghoobifarah, geboren 1991 in Kiel, studierte Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik in Freiburg und Linköping. Nach einem Zwischenstopp in Wien zog Hengameh Yaghoobifarah 2014 nach Berlin und arbeitet dort seitdem in der Redaktion des Missy Magazine. Außerdem schreibt Hengameh Yaghoobifarah frei für deutschsprachige Medien, seit 2016 etwa die Kolumne »Habibitus« für die taz. 2019 hat Hengameh Yaghoobifarah gemeinsam mit Fatma Aydemir die viel beachtete Anthologie »Eure Heimat ist unser Albtraum« herausgegeben.

Quelle: Aufbau Verlag

 

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